Man könnte auch die fahrenden Wolken lesen und Konsens erwarten –
zu Bildern von Erwin Holl
Auf einem Bild in der Hamburger Kunsthalle, das 1861 entstanden ist und Phryne vor den Richtern heißt, übrigens gemalt von dem Franzosen Jean-Léon Gérôme, ist eine Tagung des Areopags, des obersten Rats im antiken Athen, zu sehen. Beraten wird die Schuldfrage der Liebesdienerin Phryne. Sie ist der Gottlosigkeit bezichtigt. Rechts die Mitglieder des Rats. Alle tragen eine rote Toga. Links Hypereides, der Verteidiger der Beschuldigten, dessen Haltung gut erahnen lässt, mit welch Schwung, Dreistigkeit und großer Überraschung er Phryne die Kleidung vom Leib gerissen hat. Voll Scham wendet sie nackt sich ab, den Blick geschützt, verdeckt die Augen durch die Armbeuge rechts. In den hinteren Reihen des Rats sind Hände empor geworfen, als Zeichen der Fassungslosigkeit und ängstlichen Zurückweichens. Als würden Blitz und Donner die Szenerie bestimmen. Und doch, die Unmittelbarkeit und Makellosigkeit von Phrynes Schönheit – eine solche kann doch nur gottgewollt sein – zeigt im Freispruch folglich die gewünschte Wirkung. Nur einer sieht die Szene und also den Beweis der Unschuld Phrynes nicht. Denn das von Hypereides gehaltene Gewand nimmt dem Kläger den Blick. Aus gutem Grund betitelt Erwin Holl im Jahr 2005 eines seiner Bilder Phryne I. Die formalen Entsprechungen mit dem Bild von Jean-Léon Gérôme sind bemerkenswert. Auch die Farbanteile. Und die grundsätzliche Form des Aufbaus.
Erwin Holl malt. In der Regel in großem Format und stark farbig. Das Kolorit ist eigenständig. Bisweilen beißend. Scharf. Oft ist der Bildraum fast überbordend voll. Wer die Gemälde dechiffriert, darf eines nicht erwarten: Eindeutigkeit. (Man könnte auch die fahrenden Wolken lesen…) Abbildliches und Abstraktes sind unmittelbar zueinander gestellt. Konstruktion und biomorphes Wuchern. Hinzu kommen eine vielschichtige Medienreflexivität und das spezifisch anthropologische Moment der Malerei per se. Das sich Einschreiben des Künstlers ins Material. Eine Form von Selbstbildnis, im übertragenden Sinne.
Es geht Erwin Holl um die Erfindung und um die Wahrnehmung von Realitäten. Um Durchdringung. Etwa von Pflanzen und Maschinen und dabei um die Ausprägung hybrider Mikroorganismen. Diese können sich als Szenerien, geradezu als Labore oder frankensteinsche Giftküchen gerieren, die von Pflanzlichem oder Zellstrukturen überwuchert werden oder diesen Nährboden sind (wie in Alekto, einem Bild aus dem Jahr 2008, dem die unaufhörlich jagende Rachegöttin der griechische Mythologie den Titel stiftet). Dabei in den Fokus gerückt ist ein genereller Spagat, den es heutzutage wohl zu halten gilt. Derjenige zwischen Schutz und Verbrauch endlicher Ressourcen oder jener zwischen Natur und dem Irrglaube einer Dominierbarkeit des natürlichen Weltenzusammenhangs. Groß ist die Hybris. Ins Leere gehen Gesten. Insbesondere die Idee, sich über die Natur gestellt zu wissen. (Sei es, als zeige diese sich in der manieristischen Überformung von Natur im barocken Landschaftsgarten oder einer Technik- und Maschinengläubigkeit heutzutage.) Als gelte es auch hier, einen Beweis zu führen oder Ordnung wieder herzustellen. Bracciano, der Name einer kleinen Stadt bei Rom, gibt einem Bild von Erwin Holl aus dem Jahr 2007 den Titel. Einem zweiten aus demselben Jahr Persephone, die Fruchtbarkeits- und Totengöttin der griechischen Mythologie, Tochter von Zeus und Demeter. Durch Hades (geschürt durch Fehldeutung) ist sie für eine Zeit lang entführt in die Unterwelt. Voll Verzweiflung hindert die Mutter Demeter alle Pflanzen daran, zu wachsen. Sie bewegt durch diese Katastrophe Zeus schließlich dazu, Persephone zu retten. Bildwürdig ist die Aussöhnung von Mutter und Tochter und beider erster Kuss. Nur nebenbei: Kein Wunder, dass im Bild von Erwin Holl große Knochen den Weg zurück aus der Unterwelt formen – als ginge es um eine Strickleiter.
Neu sind fahlfarbene Gemälde, die klar strukturiert eher verhältnismäßig wenig zeigen (quantitativ). Doch auch in diesen bleibt sich der Künstler dem Prinzip nach treu. Er etabliert mehrschichtig Bedeutungsebenen. Angelegt sind diese in malerischem Prozess. Erwin Holl reagiert entsprechend dessen innerer Logik – abbildliche Gegenstände sind beim Malen Farbe, sind Material.
Ins Zentrum gestellt eines solchen Bildes Vorhof V aus dem Jahr 2010 ist eine isometrische Architekturdarstellung. Räumlich schräg stehend und fluchtend. Stark reduziert. Nur die Umrisslinien sind gegeben. Graphische Abbreviaturen in Gestalt von Farbwülsten. Übermalt sind diese. Ist’s Lagerarchitektur? Festungsartig sind die einzelnen Gebäude, immergleiche Module übrigens, um ein leeres Zentrum organisiert. Nicht einladend, nicht zugänglich von außen. Vorlage bot nebenbei bemerkt eine Fotografie eines US-amerikanischen Großgefängnisses. Martialisch und nicht bestimmt durch menschliches Maß. Dazu kommen Farbbänder. Eines schneidet den Bildraum (und die Architektur) und bietet entsprechend einer Lesart als Perspektivraum geradezu eine Bühne. Ein zweites greift Bezüge stiftend von oben ein. Entlang seines Verlaufs kippt der Raum. Die Farbe? Gelber Ocker, der ins Goldene spielt. Das ganze Programm der Malerei auf den schmalen Flächen dieser Bänder. Sehr ausdifferenziert. Als große, freie Geste dazu liegt darunter eine Lineatur aus weichen Bögen und Gegenbögen. Grünlich, ornamental. Das Matisse’sche Vor und Zurück paraphrasierend, das Push and Pull eines Hans Hofmann. Und wieder Raum, der vice versa geöffnet wird. Das Bild funktioniert durchaus als Menetekel. Wie ein zweites auch, das als mediale Referenz auf eine Fotografie rekurriert, welche das acht- und sorglose Verbringen radioaktiven Mülls in die Schachtanlage Asse zeigt.
Ganz konkret zum Werden der komplex angelegten Bilder. Der Verlauf des Prozesses geht vom Hellen hin ins Dunkle. Anders ist technisch ein Arbeiten mit Überblendungen nicht möglich. Auf dunklem Grund gäbe eine Projektion kaum etwas zu erkennen. Der Hinweis gilt im Wortsinn. Näheres allerdings erschiene als zu viel des „Making of“. Klar, es geht in dem Verfahren immer um Fragen des Abbildens in Malerei. Um das ineinander Blenden von Bildzitaten aus der Kunstgeschichte und aus den Medien. Auch um die bereits erwähnte Einschreibung ins Material. Es geht in Erwin Holls Bildern um den Zusammenhang von entwerfen – verwerfen – Bildauflösung. Damit verbunden um Integrität – Anspruch –Moral. Letztere Trias begründet sich insbesondere aus der expliziten Form des sich der Kunstgeschichte Stellens und der Reflexion von Gestalt und Bedeutung von Bildern (gleich welcher medialen Provenienz) heute. Ich weiß nicht, ob man unter den skizzierten Voraussetzungen noch malen kann oder ob man solche Bilder (wie diejenigen von Erwin Holl) gar malen muss. Ob man, mit Georg Baselitz gesprochen, auf den Zug noch aufspringen und ein Stück weit mitfahren könne, einfache Fahrt, ohne Rückfahrt, ohne Start und Ziel und ohne dass man nach Gründen suche müsse. Erwin Holl kann.
Phryne wurde, erlaubt sei die Bemerkung, von Euthias der Gotteslästerung beschuldigt: Sie sei bei den Aphrodisien in Aigina nackt ins Meer gestiegen. Hypereides, ihr Verteidiger, trägt in Jean-Léon Gérômes Szenerie (also vor Gericht) ein gelbes Unterkleid, darüber Blau.
Andreas Baur
Galerien der Stadt Esslingen
in: Katalog „Mind The Gap“, 2010