1998 Anselmo Aportone

Ordnungsprinzip und Komplexität in den Bildern von Erwin Holl  

Die Perspektive einer Ausstellung, die ein ganzes Jahr zu besuchen sein wird, hat Erwin Holl auf den Gedanken gebracht, die zeitliche Dimension planmäßig einzubeziehen. Die ausgestellten Werke dokumentieren die Arbeit von mehr als einen Jahr­zehnt, 1987-98. Trotzdem handelt es sich aber nicht um eine Retrospektive, die Experimente mit ausgeprägterem bildhauerischen Charakter z.B. sind hier nicht vertreten, und die Auswahl der Bilder (im umfassenden Sinn) hat keinen Beispielcharakter. Der Künstler hat in den zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten Arbeiten präsentiert, die nicht nur einen inhaltlichen oder formalen Zusammenhang bilden, sondern auch derselben Schaffensphase angehören. Die Gegenwart verschiedener Perioden zeigt, daß diese nicht in sich abgeschlossen sind, sondern ineinander übergehen, wobei viele Elemente transformiert und anders ausgelegt oder gewichtet im Fortschreiten erhalten bleiben. Die Ausstellung erlaubt also nicht nur eine synchronische Lektüre, wie das Beobachten des Zustands einer Schachpartie, sondern auch eine entwicklungs­geschichtliche Betrachtung.

Sie re-präsentiert charakteristische Merkmale der einzelnen Bilder, die in der formalen wie in der technischen Realisierung augenscheinlich mehrschichtig sind, weshalb man sie oft „Vexierbilder“ genannt hat, was mir als mißverständ­lich erscheint. Man geht dabei von den an sich betrachteten (evtl. zu identifizierenden) Elementen des Bildes aus und versucht ihre analytischen Beziehungen zu erschließen, als ob sie in irgendeiner Realität selbständig wären. Holls Bilder sind aber eher hartnäckig wiederholte Entschüsselungsversuche einer komplexen, dem Verständnis verschlossenen Wirklichkeit. Dazu paßt die Tatsache, daß die formalen Ebenen ebenso wie die Malschichten oft gebrochen sind, oder „Fenster“ offenlassen, oder nur eine meist geometrisch begrenzte Bildfläche abdecken. Es geht weniger um eine Verschlüsselung als vielmehr um eine Aufforderung zum aufmerksamen Hinsehen, ganz im Sinne Wittgensteins: „denk nicht, sondern schau“ [PU § 66], aber bitte genau!

Vielleicht deswegen geistern, so scheint es wenigstens mir, in den geduldigen Überlagerungen der Elemente oder in den durchkomponierten Strukturen einiger dieser Werke Bruchstücke und verfremdende Elemente, weil sie sich weigern, ein geschlossenes, autonomes „Werk“ zu sein, das vom Betrachter einfach vereinnahmt werden kann. Etwas zu „durch-blicken“ ist leichter, wenn man den Entstehungsprozeß mit Abstand beobachten kann bzw. dieser Spuren hinterlassen hat; ich denke an die unfertigen Werke vieler Meister der Vergangenheit, an die Kraft der Ruinen. Der Künstler benutzt viele Quellen und Techniken, und durchdacht zeigt er uns unterschiedliche Elemente, ohne sie im gesamten Kunstwerk aufheben zu wollen: die Schichten und Teile sind zwar Teile der ganzen Gestalt, sonst hätten sie keinen objektiven Bestand, aber gerade deswegen enthüllen sie sich als ihre konkreten, konstituierenden Bedingungen, so daß ein subtiler Bruch zwischen ihnen und dem Ganzen bestehen bleibt.

Erwin Holl leistet daher Aufklärungsarbeit ohne Fortschrittsrethorik und optimistisches Vertrauen in die menschliche Vernunft, ebensowenig mit Glauben an die erlösende Macht des Schönen und der Kunst. Es geht ihm vor allem darum, ein Stück Wirklichkeit mindestens so weit zu durchschauen, daß manche Zusam­men­hänge und Objekte ans Licht kommen. In der Folge werden wir weiter hierauf eingehen. Jetzt möchte ich diesen ersten Blick auf die Ausstellung mit der Bemerkung abschließen, daß mit ihr der Künstler im reflexiven Selbstbezug auch dazu einlädt, elf Jahre seiner Arbeit als einen synthetischen, objektivierbaren Zusammenhang zu erfassen. Um dies zu erreichen, können wir uns nicht auf Überlegungen formaler und abstrakter Art beschränken. Versuchen wir der Idee einer inhaltlich orientierten Darstellung der Entwicklung dieser Bilder zu folgen. Es handelt sich um eine Rekonstruktion des Betrachters aufgrund von Informationen und Anhalts­punkten, der Annahme von Zwecken, die nicht unbedingt mit denjenigen des Künstlers zusammenfallen müssen, und dies unter Zurück­stellung der einzelnen Werke.

Die älteren Arbeiten stammen aus der Zeit, die Erwin Holl in Neapel verbracht hat. Eine einzigartige Stadt, wo die höchste Komplexität der geographischen und menschlichen Umgebung auf wunderbare Weise in die Einfachheit weniger Horizontlinien, und einiger Offenbarungen des kollektiven Geistes übergeht. Ein neapolitanisches Sprichwort lautet: „vedi Napoli e poi muori“ (Neapel sehen und sterben), womit nichts Grausames, sondern eine stolze, fast meta­physische Aussage gemeint ist: „Hier ist die ganze Wirklichkeit konzentriert und entfaltet, wenn Du das durchschaust hast, verstehst Du alles, was es zu verstehen gibt“. Jenseits der städtischen Mythologie (s. dazu den Film Viaggio in Italia von R. Rosselini) ist in Neapel tatsächlich eine ebenso komplexe und komplizierte wie anschauliche Wirklichkeit mit hohen ästhetischen Reizen erfahrbar.

Komplex bezeichnet ein Ganzes, welches aus Teilen zusammengesetzt ist, und aus dem diese als incomplexa (nicht mehr im Zusammenhang stehend) isoliert werden können. Komplexität ist also eine Eigenschaft, die Systemen von Elementen und Relationen angehört. Wenn diese unterschiedlicher Art sind, ist ein System nicht nur komplex, sondern auch kompliziert. Nun ist Neapel komplex und kompliziert, aber die Komplexität scheint sich manchmal dort zu reduzieren, und die Kompliziertheit sich als sekundäre Erscheinung zu entpuppen. Wie wandelt unsere Wahrnehmung von einem Aspekt zum anderen? Wie ist überhaupt eine solche Wirklichkeit aufzufassen? Welches ist das wahre Verhältnis von Komplexität und Kompliziertheit? Damit werden ästhetisch und inhaltlich wichtige Fragen, die den Künstler vermutlich in abstrakter, kunstimmanenter Form schon vor diesem Aufenhalt beschäftigt hatten, von der Umgebung selbst ganz direkt gestellt.

Die früheren Arbeiten, z.B. „Se non fosse qui“ (1987), beginnen die Spannung zwischen der Komplexität und Kompliziertheit der Strukturen, die sich in der Mehrteiligkeit und in der Polychromie wiederspiegeln, und der Einfachheit mancher sich daraus ergebenden Erscheinungen (Horizontlinien, Himmelaus­schnitte, etc.) zu thematisieren. Das formale wie inhaltliche Zentrum liegt aber eindeutig bei der roten Fläche mit der Abbildung einer Luftaufnahme von Feldern, da der Begriff der Komplexität für uns aufs engste mit der Evolution des Lebens und der Gesellschaft, also mit den von ihnen erlebten und bewirkten Umwandlungen, verbunden ist (obwohl die Komplexität als allgemeine physische Eigenschaft oder gar als metaphysische Beziehung des Seins mit seinen Offenbarungen begriffen werden kann, wie in der „complicatio“ von Nikolaus von Kues im 15. Jh.).

Das Lebendige, als an sich komplexer, dynamischer und tendenziell intentionaler Faktor des Kosmos bietet sich als dessen Schlüssel und Spiegel an, so auch in den „Rankpflanzen mit Kletterhilfe“ von 1989. Es sind keine mehrteiligen Arbeiten, Komplexität und Räumlichkeit werden stärker in der Bildfläche selbst aufgenommen. Die Farben tendieren hier zu Komplementarität und Abstufung. Erwin Holl sucht nicht mehr durch Auswahl der Blickperspektiven die direkten Erschein­ungen des Einen hinter den Vielen, sondern die gestalterischen Prinzipien selbst: ‚Kletterhilfe‘ gibt es nur für und durch die Gewächse.

In den darauf folgenden Arbeiten wächst die symbolische Kraft der Pflanzen. Die Blumen wuchern über Stadtpläne, die zugleich für eine anorganische oder anthro­pi­sche Umgebung stehen können, als deren Emanationen oder Schöpf­ungs­prin­zipien. Als solche erlauben sie eine größere Beherrschung der Komplexität, die sich nun, ohne an Ordnung und Lesbarkeit einzubüßen, wieder komplizierter, d.h. qualitativ vielfältiger entfalten kann. Parallel dazu vermehren sich die Farben und machen sich von den Flächen unabhängiger.

In den 1990/91 entstandenen Bildern sind Rosen als Blumen bevorzugt und die räumliche Strukturierung der Bildflächen noch komplexer, was eine Steigerung der eben angesprochenen Tendenzen bezeugt. Wenn die früheren Bilder dem Eindruck noch Raum lassen könnten, daß hinter der reinen Malerei nichts anderes als gegenständliche Vorwände oder ein romantisch-esoterischer Hylozoismus (die griechische Lehre des belebten Urstoffs als Substanz aller Dinge) steckt, weisen die neuen solche Zweifel zurück. Die Rose ist derart symbolisch überladen, daß sie zum leeren Gegenstand, zu perfekter Darstellung und Exemplifizierung des Objekts eines reinen ästhetischen Urteils (Gertrude Steins a rose is a rose is a rose…) gemacht werden kann. Das Ästhetische braucht keine begrifflichen Umschreibungen, kann sie aber anregen oder sie dem Subjekt einer komplexen Erfahrung sogar erst ermöglichen. Außerdem stellt die überzüchtete Rose keine Natur an und für sich dar, sondern exemplarisch eine vermenschlichte Natur. Wie spätestens Kant und der junge Marx klar sahen, sind – seit es menschliches Bewußtsein gibt – Mensch, Gesellschaft und Natur der Sache nach voneinander zunehmend abhängig und selbst als Begriffe interdefiniert. Diesbezüglich sind alle Vereinfachungen bestenfalls bewußte Reduktionen einer vorhandenen Komplexität, die sich darum bemühen, analytische Mittel zum besseren Verständnis des Ganzen herzustellen.

Nach der vorhergehenden analytischen Arbeit dürfen die Stadtumrisse nun deutlicher werden („Und genau das ist“), die Bildfläche sprengen und sich auf der Wand aus­breiten (s. die „Konstellationen“). Jetzt können die Bilder die Dreidimensionalität nicht nur darstellen, sondern auch verkörpern (s. z.B. die „Rosenbild-Objekte“), die Inhalte direkter und die Farbpalette freier werden.

Wir merken auch, daß die Fragestellung bestimmter und präziser geworden ist. Wenn auch das metaphysische Problem des Einen und der Vielen symbolisch stets mitimpliziert ist, stellt sich nun die konkretere Frage der bestimmenden Gründe der menschlichen Realität, die zuerst, wie bereits in den ‚Neapelbildern‘, rein phänomenologisch, hier von der Vagina exemplifiziert werden („Freilaufende Bilder“). Es ist plausibel, daß die bisher verfolgte Untersuchungs­methode wieder zum Tragen kommt, also können wir eine Entwicklung erwarten, die der schon Beobachteten parallel ist: a) zuerst die Bestimmung eines Prinzips, das sowohl formal auf der Bildfläche wie genetisch vom inhaltlichen Gesichtspunkt aus die Komplexität unter­stützt und ordnet; b) dann eine Reduktion von Komplexität und Kompliziertheit zugunsten der Deutlichkeit des Prinzips, die später nach und nach zurück­gewonnen werden; c) endlich eine zunehmende symbolische Konkretisierung des Prinzips und der weiteren Bildmotive.

Dies bestätigt sich tatsächlich bei den progressiven Serien der Chromosomen­bilder ab 1992. Interessant ist zu konstatieren, daß die Chromosomen sukzessiv formale Selbständigkeit erlangen, was auf gegenseitige Autonomie zwischen ihnen und den Motiven im Hintergrund hinweist. Sie stehen also nicht für den biologischen Determinismus. Die Tatsache, daß die spazierengehenden Chromo­somen­formen mit Bildern der menschlichen Existenz überdeckt sind, deutet nicht auf ein ‚in sich die Geschichte enthalten‘, sondern auf ein ‚von der Geschichte geprägt sein‘ hin. Wie zuvor muß man sich vergegenwärtigen, daß Ausgangspunkte nicht die immer hypothetischen Elementarteile, sondern die synthetischen, komplexen aber realen Erscheinungen sind, die in unserer Erfahrung angetroffen werden.

Konsequenterweise übergeben die Chromosomen in den neuesten Bildern Diagrammen, Symbolen der ‚rechnerischen Vernunft‘, ihre leitende Funktion. Mal müssen sie dem Versuch widerstehen, aufgedeckt oder aufgelöst zu werden (Verwandtschaft II), mal werden sie an den Rand gedrängt, während der von ihnen auf symbolischer Ebene prinzipierte Mensch durch die im Bild sich nicht einfügenden, sondern dominierenden Diagramme überlagert wird. In der hinteren Schicht werden gleichzeitig die früheren eleganten Spuren des Zivilisations­prozesses von den Bildern seiner katastrophalen Folgen abgelöst. Der Versuch einer malerischen Aufklärungsarbeit fällt letztendlich mit dem Hinweis auf soziale und geschichtliche Mißstände zusammen.

Damit sind wir bei der bisher letzten Entwicklung in Holls Arbeit angelangt. Hier wird deutlicher was sich in der vorigen Phase schon anzeigte: die Reduktion der malerischen Schichten auf zwei oder drei klar bestimmte Ebenen: ein monochromer Grund, worauf zeichnerisch Stadtlandschaften in Vogel­perspektive abgebildet sind; reduzierte abstrakte Strukturelemente; darüber sind Knochen gemalt. Komplexität und Ordnungsprinzipien müssen nicht mehr thematisiert werden, sie können hinter der Erscheinung zurücktreten: der Grundriß wird vom panoramischen Ausblick abgelöst, die analytische von der synthetischen Darstellungsweise. Die Stadt wird jetzt direkt als Skizze, zum Zweck einer Zustandsaufnahme gezeigt. Einfache Knochen genügen, um darauf hinzuweise, daß sie den Inbegriff menschlicher Realität und Handlung darstellt. Die Bilder sind in bezug auf das Dargestellte konkreter, gleichzeitig aber ferner geworden. Jedes Leben scheint suspendiert, schon drängen sich die Zeichen einer möglichen Welt, in der menschliche Manufakte und Lebenszeugnisse nur noch als archäologische Gegenstände fortbestehen.

Anselmo Aportone

In: Katalog „Mostra“, 1998